Es gibt nichts Schöneres... Das ist eine gern genutzte Floskel. Dass dem so ist, ändert jedoch nichts daran, dass es nichts Schöneres gibt als alte Liebesbriefe zu lesen. Dabei ist es fast egal, ob sie selbst geschrieben sind oder selbst empfangen.
So ein altes Stück Papier komprimiert praktisch alles, was der westliche Mensch braucht, um sich zu verlieren: Erinnerungen an die Jugend, tiefe Gefühle, Liebe und ein Hauch Tragik. Das alles wäre auch ohne Brief möglich, doch der physische Beweis auf Papier adelt die Erinnerung: Es ist nicht nur ein Hirngespinst, nein, da war wirklich mal was, und es war tief und besonders. So ist das mit alten Liebesbriefen. Sie sind das Herzstück der Nostalgie, und wir lieben Nostalgie.
Was den Völkern des Orients die Meditation im Hier und Jetzt, erreicht durch Yoga oder Tai-Chi, ist uns nostalgisch veranlagten Okzidentalen die rückwärts gewandte Erinnerung, in ihr finden wir für einen kurzen Moment die Katarsis, die Reinigung von Stress und Mühlen des Alltags.
Nun hat offenbar die chinesische Post genug vom Hier-und-Jetzt-Denken der Bürger. Sie hat die westliche Nostalgie entdeckt und will sie für sich nutzbar machen, denn die Scheidungsrate in Peking hat sich in den vergangenen sieben Jahren fast verdoppelt. Ein wenig nach hinten und nach vorn denken im persönlichen Zeitstrahl bringt mehr Kontinuität ins Leben, mag sich die Oberpostdirektion gedacht haben und bietet nun an, Liebesbriefe erst nach sieben Jahren zuzustellen.
Just im verflixten Jahr also kommt dann eine geballte Portion frischer Verliebtheit bei den angenervten Eheleuten an und erwischt sie mit voller Breitseite im Hier und Jetzt. Doch die Post begibt sich auf dünnes Eis. Wer weiß, mit wem die Verliebten in sieben Jahren zusammen sind. Potentielle neue Partner dürften mäßig erfreut sein, wenn ständig neue Liebesbriefe von Verflossenen ins Haus flattern. Da kann der Schuss schnell nach hinten losgehen.
Dieser Artikel ist bei news.de erschienen.