Sechs Spieße stecken im Rücken des Stiers, das schwere schwarze Tier blutet bestialisch. Aber dafür hat der Betrachter des Fotos kein Auge. Unser Blick schießt auf den unteren Teil des Bildes, wo das dicke Horn des Rindviehs kurz vor dem
linken Ohr in ein Gesicht eindringt und an einer Stelle die Spitze wieder herausstreckt, an der man eigentlich ein Auge vermuten möchte.
(Wer das nicht sehen will, macht jetzt lieber seine beiden Augen zu und scrollt weiter. Aber Leser der spanischen Zeitung ABC, wo dieser Screenshot gemacht wurde, sind sicher nicht so zimperlich.)

Es ist mal wieder passiert, ein Stier hat einen Menschen erwischt, ordentlich und vor allem so spektakulär, dass man die ganze Zeit hingucken muss. Geschieht ihm recht, ist der erste Gedanke, wenn der Blick dann doch wieder nach oben wandert auf das blutüberströmte Fell des Stiers. Der hat sich das ja nicht ausgesucht, im Gegensatz zum Torero. Dann schreckt man kurz vor seiner eigenen Gehässigkeit zurück, überdenkt den Gedanken und kommt zur Ergebnis: Geschieht ihm recht.
Dabei wird uns Juan José Padilla so nahe gebracht. Seine linke Augenbraue, das Lid, die Wange, die linke Mundhälfte werden vermutlich gelähmt bleiben und auch das Augenlicht links ist so gut wie weg, und da hat er noch Glück gehabt, denn, so sagt der Arzt, das Horn stieß in sein Gesicht so sauber wie ein Skalpell. Auch wie das unter seiner Haut aussieht, enthält und ABC nicht vor:

Und dieser Prachtkerl von einem Matador (was wörtlich übersetzt übrigens Schlächter bedeutet) verkündet noch auf der Intensivstation, er wolle bald wieder in die Arena – notfalls mit Augenklappe. Seinen Berater weist er an, bloß nicht die Verträge aufzulösen für den Kampf am 13. November in Lima/Peru und in den Tagen darauf in Venezuela und Ecuador.
Das ist verständlich, schließlich war Julio Aparicio auch nach gut zwei Monaten wieder da. Schwenkte erneut das große rote Tuch, das sich im Spanischen interessanterweise die Vokabel mit „Krücke“ teilt: muleta. Diesem tapferen Herrn Aparicio will ein Parilla nicht nachstehen. Nur noch eine kaum sichtbare Narbe hat der am Hals. Am 21. Mai 2010 hatte sich Opiparos Horn dort hinein gebohrt, zum Mund ragte es wieder heraus. Es war die spektakulärste Cornada der vergangenen Jahre.
Opiparo ist tot, nicht mehr und nicht weniger tot als jeder Stier nach seinem Kampf. Auch sein K.o.-Sieg gegen den Star-Torero hat ihn nicht gerettet. Dabei wäre es doch nur logisch, schließlich ist der Stierkampf-Kosmos ein archaischer, wenn dem siegreichen Toro die Freiheit geschenkt würde. Wenn er einfach losrennen dürfte, aus der Arena heraus, durch die Straßen, raus aus der Stadt, durch die staubige Hügellandschaft bis in die Hochebenen. Wenn er und seine anderen siegreichen Artgenossen dort die durchstoßenen Köpfe ihrer gescheiterten Mörder an die vereinzelten Steineichen hängen würden, als Schmuck und Trophäen.
Doch der Stierkampf-Kosmos ist nicht nur archaisch, sondern auch auf einem Auge blöd. Keine der großen spanischen Tageszeitungen stellt in ihrer Berichterstattung auch nur die Frage, ob es nicht an der Zeit wäre, von gammeligen Traditionen Abschied zu nehmen. Wahrscheinlich weiß auch Juan José Padilla nicht einmal, dass ihm ohne sein linkes Auge das räumliche Sehen fehlt. Dass der Stier für ihn dann noch unberechenbarer wird. Aber mal ehrlich: Geschieht ihm recht.