Freitag, 20. Januar 2012
Schlabbert es auch so schön weich um Ihre Beine? Dann liegen Sie richtig, denn es ist Jogginghosentag. Heute, und morgen gleich nochmal. Überhaupt haben wir die Woche der Gemütlichkeit. Irgendwie ist das verdächtig. Am Montag wurden wir schon zum Nichtstun angehalten, und heute trifft nun der Jogginghosentag auf den Casual Friday. Sicher, es ist wunderbar, dass Entschleunigung und Gemütlichkeit langsam aus der Gammelecke herauskommen oder, genauer gesagt, die Gammelecke selbst ein wenig Glamour erfährt. In dieser Woche allerdings ballt sich das genehmigte Faulenzertum derart, dass es schon fast verdächtig ist. Nichtstun am 16. Januar, rumschlabbern am 20. und 21.Auf den 16. Januar platzierte der US-Journalist Harold Pullman Coffin vor 30 Jahren den «National Nothing Day», der hierzulande weniger poetisch als «Tag des Nichtstuns» angekommen ist. Nicht, dass irgendein Chef sich für Pullman Coffins Schnapsidee interessierte, aber jeder Arbeitnehmer kann bei sich denken, er arbeite, obwohl er es eigentlich auch lassen könnte. Und schon ist der Job gar nicht mehr so schlimm, der Arbeiter fröhlich bei der Sache - und am Ende der Chef der Gewinner. Montag sind wir also bereits entspannt in die neue Woche hineingeglitten, und als am Mittwoch allmählich Verspannungen einsetzten, liefen schon erste Ankündigungen für den Jogginghosentag ein. Den hat Facebook sich ausgedacht und ihn auf den 21. Januar gebettet, der auch den Weltknuddeltag beherbergt. Ist das kuschlig! Doch in diesem Jahr kommt es noch weicher. Denn was bringt ein Jogginghosentag am Samstag, wenn es doch darum geht, ganz provokant am Arbeitsplatz zu lümmeln? Der workaholisierten Welt zu zeigen: Wir sehen nichtsnutzig aus und stehen dazu. Wir machen unser Ding, lassen uns nicht kleinkriegen, leben unser Leben. Ja, das sollen die ruhig sehen, die trotzdem mit Bügelfalte gekommen sind. Sie sollen wissen: An 264 Tagen folgen wir ihrem Diktat, aber heute, ätsch Pustekuchen, heute haben wir Facebook auf unserer Seite, und das sind Millionen. Warum der Jogginghosentag eigentlich reaktionär istLange Hose, kurzer Sinn: Damit er richtig zur Geltung kommt, durfte der Tag der Schlabberhose auch den heutigen Freitag annektieren, Facebook hat's erlaubt. Doch wer über den Jogginghosentag berichtet, sollte dabei nicht zu erwähnen vergessen, dass Madonna, Paris Hilton und Miley Cirus das Ding ohnehin längst straßenfähig gemacht haben. Dass selbst Präsident Obama sich im Trainingsanzug blicken lässt. Und die graue Kuschelhose es schon vor Jahren auf den Laufsteg geschafft hat. Von wegen «Probier's mal mit Gemütlichkeit». Die Jogginghose ist auch längst geentert und ins System eingepasst. Sollen sie doch in Jogginghose kommen, Hauptsache, es wird rangeklotzt, denkt sich der moderne Arbeitgeber und scherzt auf dem Flur ein wenig mit seinen Untergebenen über das heutige Outfit. Seit sie hipp ist, hat die bequeme Hose ihre Identität eingebüßt. Zumal in angelsächsischen Ländern ja sowieso schon casual Friday herrscht. Wer freitags in Australien zur Bank geht, trifft seinen Berater dort regelmäßig in Freizeitklamotte an. Einmal Jogginghosentag im Jahr - das ist geradezu reaktionär. Dieser Text ist auch bei news.de erschienen.
Dienstag, 17. Januar 2012
2012 geht gut los. Ein Kreuzfahrtschiff, Symbol für Reichtum und Dekadenz, havariert vor dem ohnehin versunkenen Italien, in der Golf-Luft liegt wieder diese beißende Mischung aus Öl, Krieg, Macht und Geld, und jetzt streiten ausgerechnet Amerikas Konservative über Kapitalismus. Nur Deutschland spielt Fels in der Brandung. Mit dieser Kanzlerin, die zu allem, was sie sagt, das magische Dreieck formt, mit Pythagoras im Sinn das ewige Gleichgewicht beschwört. A-quadrat plus b-quadrat gleich c-quadrat, das war schon so, als noch Alexander der Große den Griechen zeigte, wo der Hammer hängt. Kein Wunder, dass alles abperlt an ihr, was ist schon der Euro gegen die Wogen der Weltgeschichte. Ordnung hilft nicht gegen ChaosEin alter Bekannter schrieb kürzlich in einer Mail, vor fünf Jahren habe er die Drogen drangegeben und nun stattdessen Job, Freundin, Wohnung, Hund, Führerschein, Auto. "Ziemlich spießig, aber es war entweder das oder jung sterben." Ich war mir nicht sicher, wie ernst er das meinte, und antwortete tröstend, früher oder später brauche wohl jeder seine Ordnung, und auch Brasilien habe ja "Ordem e progresso" in seiner Flagge stehen. Er hat darauf nicht geantwortet. Aber diese Sache mit der Ordnung ist irgendwie Thema, letztens schrieb auch die Zeit ihre Titelstory dazu. Wenn man die Welt verstehen will, bietet es sich an, Kinder zu beobachten. Kleine Jungs verlieren sich darin, ihre Playmobil-Ritter in Reih und Glied zu sortieren, doch ist dies nur die Vorbereitung aufs Spiel. Das erzeugt dann völliges Chaos, und dieses wieder aufzuräumen gehört offenbar nicht zur menschlichen Gebrauchsanweisung. Es funktioniert nur mit Drohungen oder Erpressung. Tja. Auch die Supermächte hegen und pflegen ihre Waffenarsenale. Die Finanzschieber entdecken wundersame Strukturen, Geld zu erzeugen, wo keines ist. Eine Batterie von Diktatoren hat ihren Stammplatz in der Abwehrkette der Weltenlenker. Doch die Ordnung ist auch hier nur die Vorbereitung, denn im Innern brodelt es. Irgendwann bricht dann aus, wonach wir uns offenbar insgeheim alle sehnen: Aktion, Krieg, Unordnung, Revolution. Alt werden ist auch keine LösungWie lautete doch gleich das Dilemma des alten Bekannten? Ordnung oder früh sterben? Die DDR ist früh gestorben, dabei lief dort alles nach Plan. Ian Curtis ist früh gestorben, dabei wollte er alles unter Kontrolle haben. Aber Griechenland, wo das Chaos herrscht, ist älter als alle anderen. Und wer jung stirbt, lebt am Ende ewig. Naja, außer dem Minidisc-Player vielleicht. Nee, es finden sich keine rechten Regeln, es bleibt ein Tanz auf dem Vulkan, zwischen der Ordnung, die wir zu brauchen glauben, und dam Chaos, von dem wir abhängig sind. Wenn Ordnung herrscht, treten wir wie zufällig die unterste Dose im Stapel weg, den wir zuvor so mühevoll aufgebaut haben. Wahrscheinlich haben wir sie sogar vorher schon sabotiert, wie die EU ihre Stabilitätsklauseln. Wir genießen das laute Scheppern, spüren das Leben in uns, und dann...
So sehr wir es hassen, am Ende sind wir doch zum Aufräumen geboren, zum Staubwischen und Schutt wegschleppen. Irgendwann werden den alten Bekannten vielleicht die Hundehaare wahnsinnig machen oder er hat einen Autounfall. Ordnung hält nicht lange, und dann wünscht er sich den Saft der Chaostage zurück. Wo das alles hinführen soll? Zur Merkelschen Geometrie natürlich. Als Physikerin weiß sie, wie Kräfte wirken. Und dass sie Naturgesetze nicht aushebeln lassen. Sie versucht das Spannungsfeld auszuhalten. Bisher gelingt ihr das ganz gut. Chaos im Quadrat plus Ordnung im Quadrat gleich Macht im Quadrat? Was zu beweisen wäre.
Sonntag, 1. Januar 2012
Viktoria hat Tinnitus. Die unvermeidlichen Hunderttausende begrüßten in dieser Silvesternacht wieder mal unter ihr das neue Jahr. Dank einer dreitägigen Lücke im Raketenverkaufsgesetz, die alle Jahre wieder Otto Normalverbraucher den Erwerb von Geschossen erlaubt, konnte die Siegesgöttin da oben auf dem Brandenburger Tor schön miterleben, was beim gemeinen Volk los war.
Als sie heute Früh aus dem künstlichen Koma erwacht, in das ihr Göttervater Jupiter sie schließlich barmherzigerweise versetzte, sind die Hunderttausende in alle Winde verstreut und nur noch ein paar Zehnschaften orange Bekleideter sammeln die Reste ein. In Viktorias Ohren aber fiept es. Dabei müsste sie doch gut aufpassen, wer siegt und verliert!
Einen ersten Faux Pas hat sie schon passieren lassen, als sie sich die Ohren zuhielt, während unter ihr die Scorpions Soundcheck machten. Samoa nämlich hat sich einfach vorgedrängelt. Dieses Land, das seine Popularität der zufälligen Nähe zur Datumsgrenze verdankt, sah Ende des ausgebrannten Jahres in den Spiegel und murmelte zufrieden: „So sehen Sieger aus.“ Also beschloss es, den 30. Dezember 2011 ausfallen zu lassen und sich damit einen Tag nach vorn zu schieben im weltweiten Rennen um die Zeit.
Was passiert, wenn Viktoria nicht aufpasst
Statt, wie es sich gehört, als Allerletzter startete Samoa also diesmal bereits am 31. Dezember um 11 Uhr MEZ in 2012. Vor allen anderen. Jaja, Wind of Change, das kennt Viktoria zu Genüge. Früher hätte es das nicht gegeben, nicht hier, bei ihr am Pariser Platz, und nicht dort am Ende der Welt. Und während unserer Vicky weiter das Trommelfell schrillt, geht es in Garmisch-Partenkirchen schon wieder zur Sache. Waghalsige Männer versuchen es ihr beim Neujahrsspringen gleichzutun, ganz ohne Pferde allerdings fliegen sie durch die Luft, und wie gefährlich das sein kann, haben wir vor zwei Tagen gesehen, als sich Tom Hilde einen Wirbel brach und das Gesicht fies zerkratzte.
All das nur, weil diese Männer nicht nur fliegen, sondern auch noch siegen wollen. Und dann haben auch noch die Dänen, ausgerechnet die Euro-hassenden Dänen, seit heute den Vorsitz der EU inne. 2012 steht so Vieles auf der Kippe, weil so viele immer nur Gewinne wollen. Gewinnegewinnegewinnegewinnegewinnegewinnegewinne. Macht süchtig. Bei den Olympischen Spielen in London wird es 302 Sieger geben, aber Fußball-Europameister kann wieder nur einer werden. Am 26. Februar werden die Oscars verteilt, und es rangeln jede Menge Typen, die wie Sieger aussehen, um die kleine goldene Figur: George Clooney, Ryan Gosling, Brad Pitt, Leonardo DiCaprio, Matt Damon. Dann wird am 4. März der russische und am 6. November der Präsident der Vereinigten Staaten gewählt. Manch einer hält die beiden noch immer für die mächtigsten Männer der Welt. Und Viktoria hat Tinnitus.
Vielleicht hätte Klaus Wowereit sie schützen sollen vor der langen Nacht. Sie da runter holen. Wie damals 1813, als sie nach Napoleons Raubzug bequem in Paris in Kisten verpackt lag, während Preußen, Österreicher, Russen und Schweden Frankreichs Kaiser bei der Leipziger Völkerschlacht in die Flucht jagten. Oder 1949, als die rote Fahne auf dem Brandenburger Tor gehisst wurde. Der Sieg gegen Adolf Hitler war gelungen, jetzt konnte Viktoria in einer Ostberliner Bildhauer-Werkstatt Kraft sammeln für ihre anstrengende Mission im Kalten Krieg.
Wer Sieger nicht aussehen
Wowi hätte wissen müssen, dass auch Viktoria Schutz braucht. Schließlich war er vor genau 22 Jahren schon Stadtrat in Berlin, als sie schwer verwundet wurde. Ausgelassen Feiernde kletterten aufs Brandenburger Tor und rissen ihr das Zaumzeug aus den Händen. Ja, es war ausgerechnet die Wind-of-Chance-Silvesternacht 1989/90.
Moment - vielleicht sind es gar nicht die Hunderttausende. Die vielen Sieger und Entscheidungen. Das kann sie doch, die Viktoria, das ist ihr Metier. Die Beweise verdichten sich, dass es der hannoveranische Rock'n'Roll ist, der sie aus der Fassung bringt. Nein, so sollten Sieger nicht aussehen. Dann müssen die das jetzt auch in Ordnung bringen. Und halt einfach endlich schweigen.
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